Qassim Haddad
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Berlins Nacht
Einsam in der Nacht verfehlt er die Pforte zum Traum.
Vom Schlaf übermannt,
lässt er im tiefsten Moment den Gespenstern freien Lauf.
Einsam irrt er umher,
wenn die Angst zum Ausbruch kommt nachts in Berlin.
Berlin, ungewohnt in Eile,
ist im Wald zu Haus
umgeben von Chlorophyll
von sattem, überschwänglichem Grün
von Seen
harmonisch das Farbenspiel der Natur.
Berlin ist nur einen Moment zerstreut,
und die Geschichte erwacht sogleich.
Die Chronik des Krieges zeigt sich im Detail
gegenwärtig
im alten, tiefroten Gemäuer
in Öfen, in denen man Lehm brennt, für Hungrige bestimmt
gegenwärtig
in der unerschütterlichen Hoffnung auf Leben,
die unzählige Menschen auf der Flucht vor dem Tod in die Ungewissheit trieb
gegenwärtig auch
in dem Rest Stimme, der Berlin geblieben ist
in Nächten, die länger dauern als der Schlaf.
Nacht,
schützend wachst du über all jene,
die sich durch finstere Gänge schleppen.
Erzähl mir etwas,
das mich hinüberrettet zum Morgen, der noch in weiter Ferne liegt.
Sag,
wie soll ich die Geschichte verstehen,
was kann ich tun, dass die Stadt im Dunkeln erkennt,
wie sie in meine Texte eingegangen ist?
Nacht,
berichte der Stadt,
was ich über sie schreiben werde morgen früh,
was die Angst mit mir treibt,
dass mir die Beine zittern beim Gehen.
Einsam halte ich Ausschau
blicke
auf eine Reise, die unzählige Lesarten hat
im Lexikon der Nacht
über Vergangenheit und Zukunft.
Untrennbar haftet Berlin all das an,
was die Erinnerungen heraufbeschwört
was die Mauer zum Vermächtnis eines Alptraums macht
was zuende ist,
kaum dass es begonnen hat
was in Kürze beschrieben, unmöglich das Gesamtbild erfasst.
Unterdessen in der Nacht verfangen,
durchlebt Berlin einen schnellen Traum.
Nacht,
lass mich begreifen, was von der Seele bleibt
am Anfang und am Ende.
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ßÇÆäÇÊ ÇáãßÇä
Die Wesen der Stadt
Können sie ihre Stadt nicht einvernehmlich schmähen,
dann loben sie sie in den höchsten Tönen.
Manche stimmen inbrünstig eine Hymne an
wie Jugendliche in einem verwilderten Gärten über Gräser stolpernd
wie sonntägliches Singen in einer Kirche mit eingestürztem Turm
wie riesige Biergläser, sich drängend auf den Tische überfüllter Cafés.
Nicht die Stadt hat gesündigt,
die Menschen waren es
vor der Mauer und danach.
Greise mit tief zerfurchter Haut strömen herbei
die Hände sind zitterig, die Gehstöcke abgenutzt
Stöcke, gekrönt mit Griffen
aus altem Elfenbein
vergilbt vom Tabak
rot angelaufen vom Wein
und schwarz von der vielen Zeit.
Greise,
das Gemüt verfangen im wiedererlangten Gedächtnis
ihr Atem riechtnach Überdruss
und im wankenden Gang hallt ein alter Marsch nach
der Marsch für eine Armee, die heimkehrt vom Tod.
Kaum beginnen sie, ihr weites Hemd aufzuknöpfen,
um die Narben zu zeigen, die die Stadt in Verruf bringen,
schlagen die Enkel eine Lobrede an,
wollen die Alten beschwichtigen,
ihren trägen Sinnen ein paar schöne letzte Tage bescheren.
Des Verdrängens werden sich die Enkel bewusst,
sobald jemand in der Feuerstelle an der Asche rührt,
und sofort schlägt das Loblied in eine Schmährede um
vor der Mauer und danach.
Die Greise breiten ihre alten Karten auf den Stühlen aus
und betrachten sie sich von der Tischkante herab
als bewachten sie eine Hölle,
wollten sie löschen mit überschäumendem Bier.
Sie erblicken Enkel,
die nur die Sterne des anbrechenden Tages sehen
eines Tages, der weder zu erfassen noch abzuwenden ist.
Die zittrigen Hände ausgestreckt,
machen sie den Enkel Mut,
führen sie wohlwollend an die Erkenntnis heran.
Eine Stadt mit geteiltem Gesicht haben wir geerbt
in den Büchern viel beschrieben, doch unzureichend erklärt.
Wir, das Vermächtnis der Geographie,
die Lagerstätte der Geschichte,
haben unsere Schuld aufgeladen
und unsere Erfahrung geteilt mit allen Wesen der Stadt,
auf dass der Text ihnen ihren Anteil zuerkennt.
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